Neoliberal

Raubtier - kein Kapitalist. Eigenes Bild
Raubtier — kein Kapitalist. Eigenes Bild

Ich bin Neoliberaler. Zumindest schreibe ich das gerne, weil sich alle immer so aufregen.

Was ist das überhaupt, Neoliberalismus? Folgt man der Definition in Wikipedia: Nichts schlimmes. Eben eine freiheitliche, den menschlichen Bedürfnissen angepasste Marktwirtschaft mit staatlicher Regulierung. Was soll also die Aufregung?

Ich vermute einen der beliebten „Kategorienfehler“ in der öffentlichen Debatte um (Neo-) Liberalismus. Ein Kategorienfehler ist die höfliche Umschreibung für mangelndes Abstraktionsvermögen. Oder einfach ein Missverständnis. So wie das berühmte Missverständnis, dass die darwinschen Evolutionsgedanken angeblich einen biologischen Vorteil des „stärkeren“ beschreiben würden. Was falsch ist. Überleben werden diejenigen, die in ihre Umwelt passen. Jedenfalls ist die Tatsache, dass mir beim Hundespaziergang nur harmlose Vögel begegnen, anstatt ihrer, an der Kreide-Tertiär Grenze ausgestorbenen, carnivoren, bis zu 13 Meter langen und ausgesprochen un-harmlos aussehenden Vorfahren, ein Hinweis darauf, dass es sich evolutionär nicht lohnt, die Zeichen der Zeit zu mißdeuten.

Genauso eben, wie es nicht zukunftsweisend ist, eine moderne liberale Wirtschaftsordnung als „Raubtierkapitalismus“ zu kategorisieren. Tyrannosaurus Rex würde sich totlachen. Kapitalistische Auswüchse sind erstens keine Phänomene liberaler Gesellschaftsordnungen und zweites, kein Beweis für die grundsätzliche Unmenschlichkeit einer freien Marktwirtschaft. Wie immer gilt: abusus non tollit usum. Ja, man kann “Squid Game“ als Anklage des südkoreanischen und also westlichen Wirtschaftssystems sehen, die Unmenschlichkeit dessen anprangernd. Aber die modernen System- Raubtiere finden sich doch heute tatsächlich zwar auf ähnlicher geografischer Länge wie Seoul, aber nördlich des 30 Breitengrads.

Denn: Niemand hat Gi-hun gezwungen, sich in eine aussichtslose Lage zu manövrieren. Man hat in Seoul die Wahl, ob man sich überschuldet. In Pjönjang nicht. Auch diese Freiheit kann man als „kalt“ und „herzlos“ betrachten. Mir ist die Kälte der freien Entscheidung aber lieber, als die in einem nordkoreanischen oder chinesischen Umerziehungslager. Die Kontrolle über das eigene Leben zu haben, ist das, was den Menschen ausmacht. Keiner hat behauptet, das Leben wäre einfach. Das ist es weder südlich noch nördlich der demilitarisierten Zone.

Ich erlebe übrigens auch den Begriff „Leistungsprinzip“ in diesem Zusammenhang oft nicht korrekt kategorisiert. Das liberale, das marktwirtschaftliche Leistungsprinzip ist nicht das Überleben des stärkeren. Nicht die angeblich Dominanz des Tyrannosaurus Rex, des militärisch-industriellen Komplexes, der Milliardäre über den Vogel, also uns Bürger. Die Vorstellung, dass in einem liberalen Wirtschaftssystems, eine lineare  und vor allem streng kausale Abhängigkeit von Leistung und Wohlfahrt bzw. Reichtum bestehen würde, ist Quatsch. Kein Quatsch ist es aber, dass das Leistungsprinzip mich frei macht, mich emanzipiert, von Standesdünkel und religiös-ideologischer Unterdrückung. Mich zum mündigen Bürger macht.

Der Kern des neoliberalen Leistungsprinzip ist nicht die Pippi-Langstrumpf Vorstellung, dass man nur engagiert genug Teller waschen muß, um dann einst Milliardär zu sein. Oder 16 Stunden am Tag arbeiten muß, um nicht bei der Pfarrer Landvogt Hilfe zu landen. Käse. Es ist die Möglichkeit ein selbstbestimmtes Leben auf der Basis der eigenen Vorstellungen, Talente, Fähigkeiten und Leidenschaften zu führen. Anstatt allein vom Wohlwollen Anderer abhängig zu sein.

Wer mich je mit meinem Hund den heiligen Sonntagnachmittag auf der Couch hat vertrödeln sehen, würde mich wohl kaum als raubtierkapitalistischen Workaholic wahrnehmen. Bin ich natürlich auch nicht. Über den faulenzenden Hund würden dessen wölfische Vorfahren wohl die Nase rümpfen. Unbestreitbar wird der Beobachter aber eine evolutionäre Bevorzugung des Couchpotato-Exemplars von Canis Lupus erkennnen. Gegenüber seinen ums Überleben kämpfenden Raubtier-Vorfahren. Eine Evolution, die in unserem Fall nunmal Extreme-Coucher bevorzugt. Nicht den Stärkeren. Wir, ich und mein Hund, wir sind Neoliberale.