Semantik
Ich werde morgen mein Geschlecht ändern. Vielleicht.
Diskussionen über das SBGG, also das „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag“, das morgen am ersten November 2024 in Kraft tritt, erlebe ich häufig als ausgesprochen kontrovers. Und nicht selten ertappe ich mich dabei, wie ich meine eigene Geschlechtlichkeit rechtfertige, etwa durch Nebensätze wie “ … nicht dass ich mit meiner geschlechtlichen Rolle als Mann unzufrieden wäre …“. Und das bin ich auch nicht. Die Leidenschaft für vergorenen Gerstensaft, übertriebene Motorleistungen und bestimmte nicht-männliche Attribute bei anderen Vertretern meiner Spezies hat mich nie gestört. Auch die eigene Darreichungsform, obschon stetem Wandel unterworfen und durchaus mit Abstrichen gegenüber der oft in Fachzeitschriften (Bibel, Cosmopolitan, Emma, GQ) postulierten Idealform hinzunehmen, war und ist mir nicht Anlass genug, einen Behördengang auf mich zu nehmen.
Da frage ich mich selbst: Warum rechtfertige ich mich für mein Geschlecht? Was hat das überhaupt mit der Frage zu tun, unter welchem Geschlecht oder welchem Vornamen ich im staatlichen Personenstandsregister geführt werde? Klar, weil diese Angaben in der 1867 vom Kaiser eingeführten Liste Teil meiner Identität sind. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Ich behaupte mal kühn, dass es den kaiserlichen Beamten schnurzegal war, mit welchem Selbstbild ich durchs Leben laufe und ob ich mich damit wohl fühle oder nicht. Bismarck ging es ums Verwalten. Preußisch und so. Wobei das Preußische Landrecht, so viel Fairness muß sein, im 19. Jahrhundert immerhin noch die, zumindest körperliche, Relativierung der staatliche Geschlechtsfestlegung kannte: „Als Zwitterparagraf wird eine Vorschrift im Preußischen Allgemeinen Landrecht bezeichnet, die Menschen ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale mit Vollendung des 18. Lebensjahr zugestand, ihr juristisches Geschlecht zu wählen.“ Immerhin.
Aber selbst damit war im 20. Jahrhundert Schluß. Ab 1900 herrschte Ordnung im BGB: Der Staat legt fest ob man Mann oder Frau ist. Punkt. Klar, wie immer, nur zum Besten des Bürgers. Man war und ist auf der Suche nach Merkmalen, die einen für den Staat greifbar machen. Ob ich überhaupt so transparent in den Augen meiner eigenen Verwaltung sein muss, das ist ein anderes Thema. Natürlich: Man muss das im zeitgenössischen Kontext betrachten. Die staatliche Geschlechtsfestlegung war für lange Zeit für den Einzelnen im täglichen Leben wesentlich unrelevanter als sie dies heute ist. Dies gleichzeitig mit einer wenig differenzierten Betrachtung der Unterschiede zwischen zoologischem, gesellschaftlichen und grammatischen Geschlechterbegriff im Allgemeinen, im täglichen Leben. Im dritten Reich wurde es nicht besser, um es vorsichtig auszudrücken. Die Normierung der Gesellschaft war damals natürlich gewünscht, auch um Abweichungen von der Norm unmenschlich begegnen zu können.
Seit wir in einer rechtsstaatlichen Demokratie leben, hat sich das geändert. Und es ändert sich stetig mit dem Zuwachs an wissenschaftlicher Erkenntnis und dem Verschwinden von Distanzen in Kommunikation und Geographie. Der preußische Landjunker des ausgehenden 19. Jahrhunderts wäre wohl an unmittelbarem Herzversagen gestorben, hätte man ihn direkt in eine Christophers-Street-Day-Parade des 21. Jahrhunderts gebeamt. Oder, vielleicht hätte er auch gar nicht mehr zurückgewollt, auf das Landgut zu Kaiser, Frau und Kind, man wird es nie erfahren. Aber auf die Erkenntnis, dass der Begriff „Geschlecht“ für einen Menschen im Lauf eines Lebens weitaus mehrdimensionaler ist, als es die Klassifizierung: „M“ oder „W“ im Reisepass beschreiben könnte, und sich daher mit der staatlichen Festlegung für Menschen massive Probleme der Selbstwahrnehmung ergeben können, hat der bundesrepublikanische Gesetzgeber, also wir, die Bürger, reagiert. 1980 wurde das „Transsexuellengesetz“ (TSG) verabschiedet, dass es dem Bürger ermöglicht, rechtlich mit einem anderen, als dem bei der Geburt, wie gesagt: empirisch minimalinvasiv, festgestellten Geschlecht anerkannt zu werden.
Und spätestens da kam die Semantik ins Spiel. Die Kritik an dieser Möglichkeit erfolgte unmittelbar und vorhersehbar: „Wie kann das sein, wo kommen wir dahin, wenn jeder über sein Geschlecht selbst bestimmt?“ Biologie, zwei Geschlechter, wir kennen das. Spätestens seitdem ist es notwendig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was denn der Begriff „Geschlecht“ eigentlich in welchem Zusammenhang bedeutet? Bezieht sich der Eintrag im Standesamt auf den Chromosomensatz? Auf die epigenetische Entwicklung? Auf primäre äußerliche Geschlechtsmerkmale? Auf gesellschaftliche Konventionen und die individuelle Komfortzone in Beziehung zu diesen? Auf die Frage, wieviel PS das Motorrad des Bürgers hat oder wie oft er Fußball schaut? Auf die Frage, in welcher Kleidung er sich wohl fühlt? Auf seine sexuelle Präferenzen? Auf das erste Buch Mose? Kurz: Was bedeutet der Satz „Ich werde mein Geschlecht ändern“ überhaupt? Im SBGG geht es nur darum, das zu ändern, was der Staat an Informationen über mich zu haben glaubt. Klar, das hat Konsequenzen. Aber die Hoheit darüber, ob mein Geschlechtseintrag passt, die habe doch ich, nicht das Einwohnermeldeamt? Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sich. Siehe die heute hochmoderne Verwechslung von grammatikalischem und biologisch/gesellschaftlichem Geschlecht. Ersteres ist koventional eindeutig, letzteres individuell ambivalent. DER Zug beschwert sich halt nicht, dass ihn DIE Lokomotive zieht. Aber das ist ein anderes Thema. Innen.
Diesem Unwohlsein mit der neu gewonnen Freiheit gegenüber dem Staat die geschlechtliche Identität selbst in die Hand nehmen zu dürfen, stand im TSG ab 1981 natürlich die Bürokratie entgegen. Soo einfach gehts dann doch nicht. Zitat FAZ: „.. in dem geregelt war, (TSG) dass man sein Geschlecht nicht ohne die Zustimmung eines Gerichts und zweier Psychiater ändern durfte. Die Kandidaten wurden körperlich untersucht und intim befragt und empfanden das als demütigend und diskriminierend. Teuer war es obendrein, es kostete mehrere Tausend Euro. Mittlerweile gelten einige der damaligen Regelungen als verfassungswidrig..“ Deshalb war es an der Zeit, die gesetzliche Situation zum Geschlechtseintrag ins Personenstandsregister in Deutschland zu reformieren. Und deswegen halte ich es für gut und richtig, dass ich morgen zum Standesamt gehen kann, und der Verwaltung gegenüber, die vor 58 Jahren stattgefundene initiale Begutachtung meines gesellschaftlich anzuerkennenden Geschlechts als richtig bestätigen kann. Dass ich mir und der Verwaltung nun gratulieren kann, dass die leichtfertige Festlegung meiner geschlechtlichen Position in der Gesellschaft kein Fehler war. Und meiner Erleichterung darüber Ausdruck verleihen kann, dass andere, bei denen das in der Rückschau nicht so gut funktioniert hat, die Entscheidung nun selbst evaluieren können.
Und, um das semantisch nochmal klarzustellen: Das SBGG zwingt niemanden zu irgendwas. Es gibt uns Bürgern ein Stück Freiheit zurück, dass uns der Staat 1867 genommen hat. Damals sicher in guter Absicht und unter gesellschaftlich völlig anderen Umständen. Heute nicht mehr zeitgemäß. Und wen ich bei mir auf welche Toilette schicke ist und bleibt Sache meines Hausrechts. Aber und zugegeben: Ich empfinde manche Seiten des Gesetztes als schwierig. Die hätte ich mir anders gewünscht. Es tut der gesellschaftlichen Diskussion nicht gut, wenn man für das frei verantwortliche Handeln des Bürgers keine klaren Altersgrenzen setzt. Nach meinem Empfinden ist diese Grenze erreicht, wenn für alle die selben Rechte und Pflichte gelten. Solange ich nicht autofahren darf, mir nicht jeden Film im Kino anschauen darf und nicht vollständig Erwachsen im Sinne des Gesetzes bin, kann ich auch nicht selbst über meinen Geschlechtseintrag entscheiden, zumindest nicht als Routinevorgang. Das ist zwar geregelt, im aktuellen SBGG. Aber, für meinen Geschmack, zu kompliziert, zu opak. Sicher, auch da gilt es die Frage zu klären wann die Altersgrenze erreicht ist, über die ja auch an anderer Stelle diskutiert wird. Um das Faß hier nicht auch noch aufmachen zu müssen: Der Schutz von Minderjährigen muss stärker, deutlicher herausgearbeitet werden. Unter der Erwachsenenschwelle müssen strengere und vor allem möglichst ambiguitätsfreie Richtlinen gelten. Die aktuellen Regelungen für die Behandlung Nicht-Volljähriger im TSG lösen bei manchen Schnappatmung und Ampel-Weg Forderungen aus - ohne Not wie ich meine.
Natürlich wird es im gesellschaftlichen Diskurs immer die Haltung geben, dass es in jeder Dimension der Betrachtung exakt zwei Geschlechter gibt und jeder Mensch exakt und zu 100% einem der beiden Geschlechter zuzuordnen ist. Und es gibt diejenigen, die einfach zufrieden damit sind, wenn die Verwaltung ihnen ihr Geschlecht vorschreibt. Also zum Beispiel: Die Fraktionen von CDU, AfD und BSW im Bundestag. Ich bin anderer Ansicht und deswegen und trotz der Kritik an den Regelungen für Minderjährige im SBGG zufrieden mit der erforderlichen Neuregelung. Gerüchte, wonach das Gesetz zu horrofilmartigen Szenarien mit diabolischen Eltern, Kindern des Satans und dem Untergang des Abendlands in blutigen Szenen endet, sind semantisch betracht, Quatsch. Vielleicht eine gute Vorlage für einen Halloween-Hollywood-Blockbuster. Mal sehen ob ich die Nacht überlebe oder ob Michael Myers mich erwischt. Falls nicht, hab ich mir jetzt so beim Schreiben überlegt, verzichte ich morgen trotzdem aufs Gratulieren beim Einwohnermeldeamt. Sie wissen schon, männliche Verhaltensmuster, Umgang mit Gefühlen und Alkohol, oh je … Prost und
Happy Halloween