Tatsache

Man sollte Politik nicht den Juristen überlassen. No offense, liebe Juristen. Aber sehen wir doch mal der Realität ins Auge: Die Tatsache, dass ich heute juristische Beratung benötige, um ohne Regelverstoß zur Arbeit fahren zu können, ist Ausdruck eines politischen Missverständnisses. Oder ist das eine falsche Tatsachenbehauptung?
Zu welchen Auswüchsen dieses Missverständnis führt, zeigt sich im aktuellen Koalitionsvertrag, Zitat:
3927 Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und Fake News sind
3928 ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen
3929 Zusammenhalt. Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die
3930 Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der
3931 Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie
3932 Hass und Hetze vorgehen können. Systematisch eingesetzte manipulative Verbreitungstechniken wie
3933 der massenhafte und koordinierte Einsatz von Bots und Fake Accounts müssen verboten werden.
Natürlich, der Jurist jubelt. Endlich! Vor Gericht darf man schließlich auch nicht lügen. Warum also woanders? Aber betrachten wir dieses Sätze dochmal aus der Brille desjenigen, der morgens einfach zur Arbeit fahren will. Des mündigen Bürgers in einer rechtsstaatlichen Demokratie. Der bekommt jetzt also erklärt: „Gezielte Einflussnahme auf Wahlen“ sei eine „ernste Bedrohung für die Demokratie.“
Läuft da nur mir ein kalter Schauer den Rücken runter? Bin ich da der einzige, der nach Orwell-Texten im Bücherregal Ausschau hält? Ist die „Möglichkeit der gezielten Einflussnahme auf Wahlen“ des Bürgers nicht genau das, was die Demokratie ausmacht? Ist das nun einfach nur unpräzise formuliert oder tatsächlich ein Anschlag auf die letzten Reste der liberalen Demokratie, die uns im Hamsterrad noch geblieben sind? Sind: „alltägliche Desinformation und Fake News“ tatsächlich das Problem, oder ist es vielmehr der politische Wille alles und jeden immer unter Kontrolle haben zu müssen? Tja. Die Adobe-KI meint ich hätte das falsch verstanden. Zitat:
„Der (Koalitions-) Vertrag betont den Schutz der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts vor Desinformation. Orwell zeigt, wie die Manipulation von Informationen und die Kontrolle der Sprache genutzt werden, um die Gesellschaft zu unterdrücken und die Machtstrukturen zu erhalten.“
Ich glaube nicht, dass ich es bin der da was falsch verstanden hat. Sowohl bei Orwell als auch im Koalitionsvertrag ist der Vorwand identisch, nämlich der vorgebliche Schutz des ebenso vorgeblich unmündigen Bürgers. Das Ziel ist identisch, nämlich die „Erhaltung von Machtstrukturen“ die Methode identisch, nämlich das autoritäre Entscheiden was richtig und falsch ist. „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Ach was. Die unbewußte schon? Besoffen ist es OK zu lügen? Aber hier kommen wir nun zum Kern. Was ist denn eigentlich eine „Tastache“? Was unterscheidet eine Tatsache von einer Meinung? Und wer trifft die Entscheidung, was richtig und falsch ist?
Für den Juristen ist das klar. Für den Naturwissenschaftler schon weniger. Erklären Sie doch Hugh Everett mal, dass Tatverdächtige sich nicht an zwei Stellen gleichzeitig aufhalten können. Oder stellen Sie sich vor: Nachdem Lord Kelvin im Jahr 1902 verkündete, dass Flugzeuge niemals den Atlantik überqueren könnten, wären alle, die behauptet hätten, es wäre doch möglich, wegen „falscher Tatsachenbehauptungen“ verhaftet worden. Kelvin war und ist eine anerkannte wissenschaftliche Autorität, wenn er was sagt ist das Tatsache? Oder doch nur Meinung? Was denn jetzt?
Also, um eine der zahlreichen Fragen zu beantworten: Der Einzige mit Störgefühl bin ich nicht. Die Pressestelle der Grünen, die Tagesschau, nimmt tatsächlich entsprechende Bedenken wahr. Erstaunlich. Aber, natürlich, als einzige Instanz der ultimativen Wahrheit und des bevorstehenden Weltuntergangs sieht man dort natürlich keine Probleme. Schon deshalb, weil man ja im Koalitionsvertrag eben als genau diese ultimative Instanz der Wahrheitsfindung bestätigt wird, Zitat Tagesschau:
„…. wird wiederum von der im Koalitionsvertrag erwähnten „staatsfernen Medienaufsicht“ geprüft. Dazu zählen die Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, der Presserat und die Landesmedienanstalten. Bei ihnen können Nutzer Beschwerden einreichen, wenn sie eine falsche Berichterstattung vermuten…“
Die NZZ wird da schon deutlicher:
„Doch wirklich beunruhigend sind die Passagen, in denen es um die Freiheit der Rede geht. So heisst es in dem Papier der Arbeitsgruppe Medien und Kultur: «Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.»
Ein grotesker Satz, denn natürlich sind falsche Behauptungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vollkommen legitim. Wer sollte auch entscheiden, was «falsch» ist und ab wann die «bewusste» Verbreitung von Lügen vorliegt? Eine staatsnahe Lügen-Meldestelle? Das wäre eine Schande für eine liberale Demokratie.“
Was für den Juristen eben kein Problem ist, ist es für ein Gesellschaft sehr wohl: Die Definition von „Tatsachen“. Und das Recht auf Irrtum. Weder hat der Staat, schon gar nicht der demokratische, ein Anrecht darauf zu definieren, was Tatsache ist und was nicht. Auch nicht über Strohmänner. Es ist eben ein Unterschied, ob ich vor Gericht herausfinden will, ob jemand gegen den konsensualen Willen der Gesellschaft verstoßen hat oder nicht. Oder ob ich versuche herauszufinden, welche Politik im Staat gemacht werden sollte. Gefährlich wirds, wenn die Idee der staatlichen Unfehlbarkeit, die ja nichtmal im Gerichtssaal wahr ist, dann auf die Grundsätze des Lebens angewendet werden soll. Die Erde ist vor 6.000 Jahren entstanden. Oder vor 4.600.000.000. Nur weil uns die eine Behauptung dämlich vorkommt, sagt das nichts über ihren Tatsachenstatus aus. Aber wenn der Staat oder der ARD sich nun dazu aufschwingt, den einen oder eben den anderen Standpunkt, Erkenntnishorizont als „Tatsache“ zu definieren - dann sind wir zurück im Mittelalter. Wie lautet die „Tatsache“? Aufklärung bedeutet auch, dass ich als selbstverantwortlicher, freier und mündiger Bürger das Recht habe, den größten Blödsinn des Universums herauszublöken und zu behaupten das wären Tatsachen. Nicht wenige tun das übrigens. Was jetzt? Trump verhaften?
Es ist falsch, Politik so zu machen, dass es Juristen möglichst einfach haben. Da liegt ein Missverständnis vor. Wie gesagt, no offense, meine eigene Tochter schickt sich an, eine von jenen zu werden und ich wünsche ihr das Beste für Ihren Studienabschluss. Aber: Das Leben ist größer als das Staatsexamen. Möglicherweise werde ich für diese falsche Tatsachenbehauptung demnächst vom ARD verhaftet. Tatsache.
Mathias Zeuner